Über Maia Wackernagels Album PATTERNS OF SELF AND OTHER



Das Vertraute im Unbekannten und das Verborgene im Offensichtlichen – das ist die Magie, die jede gute Erzählung ausmacht. Die schweizerische Pianistin Maia Wackernagel hat die Formel für diese Dramaturgie absolut verinnerlicht. Für ihr Jazz-Debüt „Patterns Of Self And Other“ nahm sie einen langen Anlauf.


Maia Wackernagel verbindet auf ihrem Doppelalbum eigentlich zwei Platten, die sich jedoch nicht simpel in Teil 1 und Teil 2 aufteilen, sondern sich auf beiden Scheiben Song für Song ineinander verweben. Der eine Erzählstrang setzt sich aus bekannten und weniger bekannten Standards von George Gershwin, Danny Zeitlin, Errol Garner und anderen Größen zusammen. Der andere Pfad folgt ihren eigenen Schöpfungen. Doch die Pianistin versteht es, das aufmerksame Ohr ganz schnell vergessen zu machen, was auf sie selbst zurück geht und was sie aus fremder Feder übernimmt. Denn auf beeindruckend unaufgeregte Weise werden auch ihre Nacherzählungen unweigerlich zu körpereigener Musik.


Für die CD-Ausgabe bringt es Maia Wackernagel auf die erstaunliche Anzahl von 27 Tracks, auf Vinyl sind es etwas weniger. Um auf diese hohe Dichte zu kommen, reduziert sie die Originale und Adaptionen auf ihre absolute Essenz. Jede Opulenz, jede Nabelschau, jeglicher spielerischer Exhibitionismus, wie wir ihn im Jazz so oft finden, gehen ihr komplett ab. Im Mittelpunkt steht immer der Song. Sie sagt, was zu sagen ist, tut das mit Hingabe, aber verzichtet auf alles Überflüssige und Redundante. „Es geht mir nicht um Ausschmückungen oder Selbstverwirklichung“, erzählt Maia Wackernagel freimütig, „sondern ich habe versucht, meine tiefe Beziehung zu dieser Musik auszudrücken.“


Zur Musik kam sie zwar schon als Kind, doch beschäftigte sie sich in jeder Lebensphase hauptsächlich mit Klassik. Dann griff sie zu Pinsel und Leinwand und wurde Malerin. Ihr Umgang mit Farbe und Form hilft ihr fundamental bei der Gestaltung ihrer Stücke. Bevor sie zu spielen anhebt und mit den Fingern über die Tasten tanzt, scheint sie ihren Pinsel zuerst in die jeweilige Klangfarbe einzutauchen, als wollte sie das jeweilige Stück grundieren. Aus diesem Grund wechselt sie auch in einigen Stücken aufs E-Piano, dessen Timbre bei ihr nicht selten an eine Celeste erinnert. Doch auch ihre – wie sie es ausdrückt – klassische Imprägnierung kommt ihr zugute, da sie den Jazz mit ihrem Vortrag ein Stückweit zur Klassik zurück trägt. „Ich habe erst sehr spät in meinem Leben angefangen, obsessiv Jazz zu spielen“, hält Maia Wackernagel fest. „Aber ich habe mich dabei auch intensiv mit der Harmonielehre Olivier Messiaens beschäftigt. Auch mit Skrjabin. Ich wollte mir einfach noch mehr harmonische Möglichkeiten eröffnen. Und das schlägt sich natürlich auf meinen Zugang zum Jazz nieder.“


Insofern ist es nur folgerichtig, dass die Schweizerin ein besonderes Augenmerk auf George Gershwin legt, der in seiner Person wie kaum ein zweiter Komponist der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Jazz und Klassik vereinte. Gershwin sei ein Grenzgänger gewesen, erinnert sich Maia Wackernagel, der bei ihrem Klassikstudium gerade noch so toleriert worden war. Für ihre eigene Vita war er indes ein Wegweiser. Umso beeindruckender, wie unbefangen sie sich Gershwin und Co. annähern kann und wie selbstbewusst sie deren Evergreens mit ihren eigenen Kompositionen ergänzt. Um im Bild der Malerei zu bleiben, durchdringen sich die Intentionen dieser Klassiker mit den Anliegen ihrer eigenen Stücke wie die Farben eines Aquarells. Trotz ihres sehr konturierten Spiels versteht es die Pianistin, Demarkationslinien aufzuheben, Zeitverläufe umzukehren und das Sein im jeweiligen Augenblick unabhängig von seinem Ursprung in den Läufen der Zeit als das zu akzeptieren, was es genau in jedem einzelnen Moment ist. Als sie ihre eigenen Kompositionen schrieb, war ihr noch gar nicht bewusst, dass sie diese in einen Kontext mit den Standards stellen würde. Und doch war gerade diese Entscheidung die einzig richtige.


Vor ihrem Outing als Jazz-Pianistin hat sich die vielseitige Künstlerin unter anderem einen Namen als Filmkomponistin von Dokumentarfilmen gemacht. Dabei hat sie gelernt, den roten Faden einer Geschichte nie aus den Augen zu verlieren. Diese Erfahrung hilft ihr auch bei den Songs auf „Patterns Of Self And Other“. Sie weiß zu pointieren und zu kontrastieren, und vor hat sie ein präzises Gefühl dafür, wann eine Geschichte erzählt ist und es an der Zeit für eine neue Story ist.


Wenn man so will, kann man Maia Wackernagel im Hinblick auf den Jazz als Spätzünderin bezeichnen. Doch was heißt das schon. Ist nicht jeder Augenblick im Leben der passende Zeitpunkt für einen engagierten Neubeginn? Ihr spätes Debütalbum ist jedenfalls auf eine ebenso anspruchsvolle wie angenehme Weise unbeschwert. Sie will den Jazz nicht neu erfinden, sondern genießt aus der Perspektive der Klassik die Freiheit der Improvisation und lädt ihre Hörer ein, daran teilzuhaben. Man muss weder im Jazz sozialisiert sein noch eine Vorliebe für Klassik haben, um ihren introspektiven Erzählungen zu folgen. Sie weiß, woher sie kommt, und bindet sich trotzdem an keine Schule oder Tradition, sondern bleibt in jedem Ton einfach sie selbst. Und genau dabei hilft ihr ihre Lebenserfahrung. Die demütige Freude an allem, was sie tut, überträgt sich in jedem einzelnen Ton auf die innere Leinwand des Hörers. Maia Wackernagel ist im Sinne David Bowies auf allerhöchstem Niveau ein Absolute Beginner. Das war sie immer, das wird sie auch in Zukunft bleiben, und das macht „Patterns Of Self And Other“ zu einem ermutigenden Ausnahmealbum.


Wolf Kampmann, Berlin 2023